© Tatiana Lecomte

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  1. Manuela Ammer, "Entzugs-Erscheinungen. Zu den fotografischen Investigationen Tatiana Lecomtes", in: Tatiana Lecomte, Dissolution, Edition Camera Autria, 2011

     

    Auflösung (2010) setzt sich aus acht Farbabzügen zu je 145 mal 126 Zentimetern zusammen, die jeweils einen stark vergrößerten Ausschnitt einer existierenden Fotografie wiedergeben, die Lecomte in Abschnitten abfotografiert hat. Die Vorlage wurde dabei nicht vollständig und in exakt aufgeteilten Segmenten erfasst, sondern gleichsam mit dem „freien Auge“, was in Hinblick auf das Gesamtbild sowohl zu motivischen Verdoppelungen wie auch zu Lücken führt. Die Fotografien der einzelnen Abschnitte sind schließlich so aneinandergefügt, dass zwar der repräsentativen Logik Genüge getan ist (das Ausgangsbild bleibt als solches lesbar), durch Verschiebungen und Überlappungen jedoch kein kohärentes Ganzes entsteht. Vielmehr behaupten die einzelnen Bildteile gegenüber der Gesamtansicht ihre Präsenz; „Nahtstellen“ und Sprünge weisen Lecomtes Arbeit deutlich als Komposit aus. Betrachtet man die Abzüge aus der Nähe, so findet das „Aufbrechen“ des Bildzusammenhangs seine Fortsetzung. Die extreme Vergrößerung lässt ein Druckraster sichtbar werden, das das Ausgangsbild als Reproduktion einer Fotografie bestimmen lässt. Cyanfarbene, magentafarbene, gelbe und schwarze Rasterpunkte überziehen den Bildträger in unterschiedlicher Mischung und Dichte und bringen anstelle des Dargestellten die technischen Grundlagen der Darstellung zur Anschauung.

    Was genau die Arbeit und ihre fotografische Vorlage eigentlich zeigen, ist schwer zu bestimmen: Vor einem rötlich gefärbten, bedeckten Himmel ist eine dunkle Wolke zu sehen, die sich vom linken unteren Rand ausgehend über das gesamte Bild erstreckt. Silhouetten von Bäumen und Schornsteinen, vielleicht Häuserdächern, lassen im Mittelgrund eine Siedlung erahnen. Die gesamte Szenerie ist von einer düsteren und unheilschwangeren Atmosphäre bestimmt, die durch die Monumentalisierung und Zerstückelung des Bildes noch gesteigert wird. Wasserflecken und Verunreinigungen, die bereits Teil der fotografischen Vorlage waren, erwecken zudem den Eindruck, als hätte die Wolke gleichsam den Bildträger selbst kontaminiert. Doch bleibt der Eindruck unmittelbar drohender Gefahr diffus – Anhaltspunkte für Ort oder Zeitpunkt der Aufnahme fehlen, und auch über die Ursache der Verdunkelung kann nur spekuliert werden. Tatsächlich basiert Lecomtes Arbeit auf einer Reproduktion des wahrscheinlich einzigen Farbfotos, das das Warschauer Ghetto zum Zeitpunkt des jüdischen Aufstandes vom April 1943 zeigt. Die bildfüllende „Wolke“ ist kein unerklärliches Himmelsphänomen, sondern der Rauch, der aus dem größten nationalsozialistischen Sammellager seiner Art aufstieg, nachdem deutsche Truppen es zu weiten Teilen in Brand gesetzt hatten.

    Die titelgebende „Auflösung“ nimmt demzufolge nicht nur auf die Segmentierung des Bildes und seine Zerlegung in unzählige Rasterpunkte Bezug, sondern hat in der fotografisch festgehaltenen Liquidierung des Warschauer Ghettos eine schreckliche inhaltliche Entsprechung. Lecomtes Arbeit kann einerseits als der Versuch verstanden werden, das Archivbild durch die Präsentation als monumentales Stückwerk seiner vergleichsweisen Harmlosigkeit zu berauben. Andererseits geht es darum, die Rauchwolke, die das Geschehen buchstäblich verhüllt, zu durchdringen, die Sichtbarkeit des Dargestellten zu steigern und so das vielleicht entscheidende Detail freizulegen. Diese Anstrengung ist freilich zum Scheitern verurteilt. Anstatt bislang Ungesehenes zu enthüllen, entzieht uns die extreme Vergrößerung das Dargestellte, löst es in seine Bestandteile auf, und lässt das Bild lückenhaft und substanzlos erscheinen. Die Grenze, an der „der optische Mehrwert der Sichtbarmachung“ in ein „Rauschen“ umschlägt, wurde überschritten.