© Tatiana Lecomte

Built with Berta.me

  1. Rolf Wienkötter

    Die Gedenkkultur, sofern sie sich auf die Verbrechen der Nazizeit bezieht, befindet sich in einer kritischen Phase. Schon bald werden wir ohne Zeitzeugen auskommen müssen, die aus eigener Erfahrung heraus mit jüngeren Generationen in den Dialog treten können. Individuelle Leidensgeschichten werden nur mehr mittelbar, in kategorisierter und musealisierter Form abrufbar sein. Erinnerung wach zu halten, ist ein historisches, politisches und moralisches Gebot. Wie das heute und in Zukunft gelingen kann, ist eine schwierige und offene Frage.

    Seit einiger Zeit begleitet diese Frage die künstlerische Arbeit von Tatiana Lecomte. Gängigen Methoden der Aufarbeitung steht sie mit Skepsis gegenüber. Das „starke Bild“, der „authentische Ort“, das „entscheidende Dokument“ sind nach wie vor Hoffnungsgebiete für eine Geschichtsdarstellung, die Nachgeborenen möglichst „nahe gehen“ soll. Auch die Erzählungen eines Menschen, der selbst Furchtbares miterlebt und überlebt hat, soll nahebringen, was in immer größere Ferne rückt.

    Jean-Jacques Boijentin ist ein solcher Mensch. 1920 bei Rouen im Norden Frankreichs geboren lebte er als Mechaniker im kleinen Dorf Mussidan in der Dordogne. Am 16. Januar 1944 wird der Ort als Reaktion auf die Erschießung eines französischen Spitzels durch die Résistance von der Gestapo und der französischen Miliz umstellt. 36 Menschen werden verhaftet, darunter Jean-Jacques Boijentin und sein Vater Maurice. Sie werden in das Internierungslager Compiègne nördlich von Paris gebracht und in weiterer Folge in die Konzentrationslager Buchenwald, Mauthausen und schließlich Gusen (Oberösterreich) deportiert, wo sie am 11. März 1944 ankommen. Maurice Boijentin wird im Lager ermordet; Jean-Jacques erlebt die Befreiung durch die amerikanische Armee am 5. Mai 1945 in Mauthausen und kann in seinen Heimatort Mussidan zurückkehren. Nach dem Krieg engagierte er sich als Vorsitzender eines Vereins zur Unterstützung heimgekehrter KZ-Häftlinge und ist bis zu seiner Pensionierung als Elektriker, Filmvorführer und Inhaber zweier Geschäfte für Feuerwerksartikel tätig. Er lebt zurzeit in einem Altersheim in der Dordogne.

    Das KZ Gusen II in St. Georgen an der Gusen (östlich von Linz) war ein Nebenlager des KZ Mauthausen. Unter dem Namen „B8 Bergkristall“ wurden die Häftlinge zum Bau einer geheimen unterirdischen Fabrik zur Herstellung von Messerschmitt-Düsenjagdflugzeugen eingesetzt. Die Zustände im Lager waren unmenschlich, noch schlimmer die Arbeitsbedingungen unter Tage. Jean-Jacques Boijentin hat in den Stollen gearbeitet. Was er dort erlebt hat, ist Ausgangspunkt von Lecomtes Film.

    Die heute zugängliche Anlage lässt von den damaligen Zuständen nichts erahnen. Insbesondere die Stille ist der Künstlerin aufgefallen. Berichte Überlebender sprechen von unerträglichem Lärm, verursacht durch die schweren Maschinen, die in den Stollen zum Einsatz kamen. Lecomte macht sich filmisch „auf die Suche nach dem Lärm“.

    Zu diesem Zweck bewegt sich der Film weit weg vom Ort des Grauens, um Herrn Boijentin in Frankreich zu besuchen. Eine zweite Person kommt hinzu, ein junger Mann namens Julien Baissat. Die normale Rollenverteilung – der Betroffene spricht und das Gegenüber hört zu und versteht – wird aufgebrochen zugunsten einer Werkstattsituation, in der beide als Partner ihre jeweiligen Erfahrungen und Kenntnisse einbringen. Geschäftigkeit überwiegt Betroffenheit und legt einen gewissen Abstand zum Schrecken des Geschehenen. Die Verengung auf einen Teilaspekt und seinen sinnlichen Nachvollzug verändert die Perspektive: Erinnerung erscheint als Aktion, als Arbeitsprozess, als gestaltbare, aber immer schon ungenügende Annäherung an das Gewesene. Gleichzeitig eröffnen sich Zugänge abseits einer Versprachlichung, die dem Unerhörten stets etwas von seiner Schärfe nimmt.

    Tatiana Lecomte entzieht uns vieles von dem, was wir gemeinhin unter dem Titel Gedenkkultur erwarten. Ihr Ansatz lässt Sinn und Grenzen des Gedenkens ins Bewusstsein treten, ohne die Ereignisse, derer gedacht wird, aus dem Blick zu verlieren. Sie liefert keine fertigen Bilder, sondern Hinweise, dass wir nie aufhören dürfen, uns ein eigenes Bild zu machen.