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Franz Thalmair (Kunstforum International Bd. 258)
Knapp dreißig Bildtafeln folgen gleich viele Texttafeln. In zwei Räumen im Untergeschoß des Lentos Kunstmuseum zeigt Tatiana Lecomte mit „Anschluss“ ein eigens für Linz entwickeltes Projekt, in dem sich die Künstlerin mit der medialen Darstellung geschichtlicher Ereignisse rund um das Jahr 1938 auseinandersetzt. Für ihre Installation von ungerahmten, auf Papier gedruckten und auf einem türkisen Band präsentierten Tableaus hat sie Materialien in unterschiedlichen Archiven von Linz recherchiert und eine Bildabfolge montiert, mit der sie ihre Kritik am Repräsentationsmodus von Geschichte an einem eigenen, alternativen Modell festmacht. Indem sie die Bildebene von der Textebene in Form erklärender Bildunterschriften zwar räumlich trennt aber synchron hängt, nimmt sie dem visuellen Material seine Zuschreibungen und leitet die BetrachterInnen dazu an, sich mit dem Bild als Ausdrucksform auseinanderzusetzen. Lecomte bedient sich einer Erzähltechnik, die ihr erlaubt, Texte des in Linz tätigen Autors Heimrad Bäcker mit Bildern von Hermann Göring beim Spatenstich des Militärflughafens Hörsching nahe Linz oder der Dokumentation nationalsozialistischer Propaganda zu kombinieren und so tradierte Bedeutungsmuster und museale Formen des Zeigens auszuhebeln.
Unter die historischen Fotografien mischen sich auch bestehende Arbeiten der Künstlerin. Dadurch spannt Lecomte nicht nur Bögen zu früheren Projekten, sondern auch zu anderen geografischen Zonen und thematischen Feldern. Auf einer der Tafeln sind etwa Bilder der Serie „B. B.“ (2006) zu sehen. Für diese Arbeiten, die im Original 120 × 162 cm messen und die in der Ausstellung in Linz als Reproduktionen im Kleinformat zu sehen sind, hat Lecomte eigenen Fotos aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen in Niedersachsen mit Stahlwolle bearbeitet. Auf den schwarz-weißen Repros in Linz wirken die Bilder zerkratzt, ganz so als würden sie aus einem nicht sonderlich gut gepflegten historischen Archiv stammen. Die großformatigen Varianten in Farbe, die aber in der Ausstellung nicht zu sehen sind, machen durch Lecomtes Bearbeitung den Anschein als würden Bäume in Flammen stehen. Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine fotografische Annäherung an die Geschichte des KZ von Bergen-Belsen, das nach seiner Befreiung in Brand gesetzt und zerstört wurde.
Zweifelsohne der Höhepunkt der Ausstellung ist aber der Film „Ein mörderischer Lärm“ (2015). Die Künstlerin bringt darin Jean-Jacques Boijentin, einen ehemaligen Insassen der drei Konzentrationslager von Gusen bei Linz, mit dem Geräuschemacher Julien Baissat zusammen und legt ein Dokument vor, das eindringlicher nicht sein könnte. Gusen, ein Außenlager von Mauthausen, diente dem Flugzeugbau und war, wie Überlebende berichten, überaus laut. Diesem Lärm geht Lecomte mit ähnlichen Mitteln nach, die sie auch bei den Bildtafeln anwendet, indem sie den gesprochenen Text, das bewegte Bild und in diesem speziellen Fall die Tonspur zeitweise voneinander trennt oder einzelne Elemente ausblendet. So erzeugt sie einen filmischen Rhythmus, der nicht nur dafür sorgt, dass die Aufmerksamkeit bei der erzählten Geschichte bleibt, sondern der gleichzeitig auch die künstlerische Ausdrucksform, das Medium Film, zum Thema macht. Der Soundkünstler rekonstruiert gemeinsam mit Jean-Jacques Boijentin die Erinnerungen des Insassen mit unterschiedlichsten Utensilien: Schritte am Sandboden werden mit Holzplatten nachgestellt, die auf Pantoffeln montiert sind; Menschenkörper, die auf den Boden stürzen; das Hämmern einer Metallhacke auf Stein – „Aber schnell… eins, zwei, drei, vier, fünf…“ – Boijentin lacht in die Kamera, wenn er Deutsch spricht, um den Geräuschemacher bei seiner Arbeit zu unterstützen. Knapp vor Ende des 21-minütigen Films, kommt es dann zu einem sehr berührenden Moment, wenn der ehemalige Häftling, dessen Vater in Gusen umgebracht wurde, sich seiner Rolle und seiner Funktion bewusst wird: „Ehrlich, ich möchte erzählen, ja. Vielleicht wird es nichts nützen, vielleicht doch. Die Leute werden sich vielleicht erinnern und sagen: Wir haben einmal einen gesehen, der hat das und das erzählt.“
Mit diesem selbstreflexiven Dreh wird deutlich, wie Tatiana Lecomte ihr Handwerk als Filmemacherin beherrscht. Indem die handelnde Figur nicht nur über sich selbst nachdenkt, sondern auch die Darstellungsform Film und die Konventionen von Geschichtsschreibung zum Thema macht, zieht sich Lecomte als Autorin zurück und lässt das Medium (für sich) sprechen.